Der Handel steht vor einer radikalen Neuerfindung

Datenökonomie, Plattformökonomie und Künstliche Intelligenz (KI): Diese Stichworte werden in der Handelsbranche heute schon kräftig diskutiert. Und sie werden das Geschehen auch in den kommenden Jahren dominieren. Der Deutsche Handelskongress 2019, das Gipfeltreffen des stationären Handels in Berlin, vermittelte zahlreiche Eindrücke, wie sich der Markt durch die Digitalisierung insgesamt verändern wird.

Redaktion: Karin Walter.

Während die schlechten Wirtschaftsprognosen manch einem Firmenchef in der Automobilindustrie zurzeit ernsthafte Sorgen bereiten, ist der Einzelhandel in Deutschland aktuell in einer vergleichbar guten Lage. Die Konsumfreude ist groß – nicht zuletzt auch durch das seit einigen Jahren konstant niedrige Zinsniveau für Spareinlagen. Dementsprechend wurde auch auf dem Deutschen Handelskongress Ende November in Berlin für das vergangene Jahr 2019 eine etwas über drei Prozent liegende Umsatzsteigerung im Vergleich zum Jahr 2018 prognostiziert.  Josef Sanktjohanser, Präsident des Handelsverbands Deutschland (HDE), stellte in seinem Eingangsstatement zur Kongresseröffnung sogar in Aussicht, dass die Branche von der derzeitigen Konjunkturdelle insgesamt nicht viel spüren werde. Überschwänglich wirkte der Verbandspräsident bei seiner Aussage jedoch nicht.

Das Problem: Derzeit gelingt es augenscheinlich nicht allen Unternehmen in gleichem Maße, Profit aus der positiven Entwicklung zu schlagen. „Mittlere und kleinere Betriebe werden angesichts eines immer härteren Wettbewerbs im globalen Plattformkapitalismus zunehmend an den Rand gedrängt oder kommen ganz unter die Räder“, sagte Sanktjohanser. Insbesondere die kleinen Händler könnten mit der Dynamik des Marktes oft nicht mithalten. In vielen Betrieben fehle das Know-how im Bereich der Digitalisierung. Zudem fehlten den meisten Händlern die nötigen Freiräume für Investitionen in neue Technologien.

Investitionen in Digitalisierung nicht auf die lange Bank schieben.
Auf dem alljährlich staffindenden Berliner Branchentreff wurde jedoch klar: Ohne den Ausbau digitaler und KI-gestützter Angebote mit allen Kräften zu forcieren, wird es für die Händler in den Filialen schwer werden, auf kurz oder lang überhaupt noch mit den Angeboten des Online-Handels mitzuhalten.

Dr. Dirk Schneider, Chief Digital Officer bei der Modemarke S.Oliver Bernd Freier warnte seine Branchenkollegen im Publikum davor, die dafür notwendigen Schritte auf die allzu lange Bank zu schieben. „Wir Deutschen verstehen uns mitunter sehr gut darin, auch bei digitalen Innovationen erst einmal abzuwarten“, konstatierte Schneider. „Wer sich von dieser Denkweise treiben lässt, steht vor einen großen Fehler.“ Digitale Innovationen müsse man sehr aktiv nach vorne reiben. Jedes Unternehmen sei für sich gefordert, auf diesem Sektor den richtigen Ansatz zu finden. Und bei allem gelte als oberstes Gebot, niemals die Wünsche und Bedürfnisse der Kunden aus den Augen zu verlieren.

Devise Nummer eins: Das auf den Kunden zugeschnittene Angebot.
Der Handelexperte Andreas Teller, Associate Director der internationalen Strategieberatung EY-Parthenon GmbH, unterstrich beim Berliner Handelskongress, dass es für den stationären Handel notwendig sei, bei allen strategischen Überlegungen das Verhalten der Kunden in den Mittelpunkt zu stellen. „Die Kunden erwarten durch ihre Online-Erfahrungen auch im stationären Handel ein perfekt auf sie persönlich zugeschnittenes Angebot“, sagte Teller. Dabei sei in der jüngsten Vergangenheit zu beobachten, dass „sich die Prioritäten mit der nachwachenden Generation mehr verschieben.“ Junge Konsumenten hätten gegenüber älteren Konsumenten eine deutlich größere Zahl an Lieblingshändlern. Bei der Shop-Auswahl ihrer setzen jüngere Menschen heutzutage viel stärker als früher auf Vertrauen sowie auf individuell zugeschnittene Angebote. „Im Online-Handel ist dadurch immer mehr eine neue Plattformstrategie der maximalen Personalisierung auf dem Markt zu beobachten“, konstatierte Teller.

Es braucht neue KPIs für stationären Handel.
Laut dem Handelsexperten drängt sich für die Branche deshalb immer mehr die Frage auf: Wie kann es den stationären Handlern gelingen, mit ähnlich individualisierbaren Konzepten wie die Online-Pure-Player auf die Konsumenten zuzugehen? Schließlich böten die physischen Ladenflächen für Filialisten kaum die nötige Flexibilität, um mit der Individualität der Online-Welt Schritt zu halten. Zudem sei es Händlern auf der Filialfläche kaum möglich, transparente Informationen über die Kunden und ihre Bedürfnisse einzuholen. Die Antwort auf die Frage nach der Zukunftsperspektive des Filialgeschäfts liegt laut dem Handelsexperten Teller daher klar in der Neuerfindung der Filialangebote.

„Die Zukunft des stationären Handels wird in der Umsetzung von Showroom-Konzepten, dem Ausbau von technologiegestützen Beratungsangeboten sowie in der Umsetzung neuer Einkaufserlebnisse im Bereich des Retailtainments liegen.“ Unter dieser Voraussetzung sei es allerdings eine essenzielle Voraussetzung, das Filialgeschäft künftig nicht mehr mit den KPIs eines Vertriebskanals, sondern vielmehr mit den KPIs einer Begegnungsstätte zu messen. „Der ursprüngliche Austausch Ware-gegen-Geld wird in den Läden der Zukunft nicht mehr funktionieren“, so Teller.

Der digitale Bonprix-Store könnte Schule.
machen. Die Otto-Tochter Bonprix hat mit ihrem voll digitalisierten Pilot-Store in der Hamburger Innenstadt bereits einen gangbaren und erfolgreichen Weg gefunden, um die Vorteile des Online-Shoppings mit dem Einkauf im stationären Ladengeschäft in Zukunft noch enger miteinander zu verzahnen. Unter dem Motto „fashion connect“ erwartet den Kunden auf der Verkaufsfläche eine digital assistierte Version des klassischen stationären Handels.

Der Einkauf im bonprix “fashion connect” Store wird komplett über die bonprix Smartphone-App assistiert: Damit ist es möglich, in den Laden wie am Flughafen einzuchecken, Produktcodes zu scannen, die entsprechende Kleidergröße auszuwählen und zur Anprobe in die Umkleidekabine zu bestellen, zu bezahlen, auszuchecken und vieles mehr. „Wir sind alle social animals – und werden deshalb auch in Zukunft immer wieder gerne auch die Innenstadt aufsuchen,  um ein gutes Einkaufserlebnis zu haben“, sagte Daniel Füchtenschnieder, Geschäftsführer der bonprix Retail GmbH vor den Branchenvertretern in Berlin. Die Digitalisierung sei dabei keine Hürde, sondern vielmehr als Erleichterung zu verstehen. „Wir setzen darauf, den Erlebnisfaktor und die persönliche Beratung des stationären Einzelhandels smart ergänzen. Damit gehören die Suche nach der passenden Größe oder lange Wartezeiten an der Kasse und vor Umkleiden der Vergangenheit an. Was bleibt ist ein nahtloses, App-assistiertes Einkaufserlebnis und eine Kundin, deren Wünsche an erster Stelle stehen“, so Füchtenschnieder. (WAL)

 

 

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